REMDESIVIR – NEUER
THERAPIESTANDARD GEGEN COVID-19?
Das bislang nicht zugelassene Virostatikum Remdesivir soll
laut Zwischenauswertung einer adaptiven* randomisierten Studie (ACTT) bei fortgeschrittener COVID-19-Erkrankung die Erholung beschleunigen. Dies teilt das US-amerikanische National Institute of
Allergy and Infectious Diseases (NIAID) in einer Presseerklärung mit.1 Die von der Behörde durchgeführte Untersuchung ist bislang jedoch nicht vollständig publiziert. 1.063 hospitalisierte
Patienten1 mit COVID-19 und radiologischem Nachweis von Lungeninfiltraten, verminderter Sauerstoffsättigung, Sauerstofftherapie oder Beatmung nehmen an der Doppelblindstudie teil,
wobei unklar bleibt, wie viele derzeit in die Auswertung eingehen. An 10 Tagen erhalten sie entweder Infusionen von Remdesivir (200 mg Tag 1, gefolgt von täglich 100 mg) oder Plazebo.2 Als
primärer Endpunkt erfasst wird die Zeit bis zur Erholung, definiert als ausreichende Genesung für die Krankenhausentlassung oder Wiederherstellung der normalen Aktivität: Im Median wird diese Zeit unter
Remdesivir von 15 auf 11 Tage reduziert (p < 0,001). Die Mortalität liegt bei 8,0% versus 11,6%, ein nicht signifikanter Unterschied (p = 0,059).1
Für den Direktor des NIAID, Anthony FAUCI, wird
Remdesivir damit zum Therapiestandard. Die Zulassung für den notfallmäßigen Gebrauch in den USA (so genannte Emergency Use Authorization) soll möglichst rasch erfolgen.3 Dabei handelt es sich bislang lediglich um vorläufige und weitgehend unvollständig
dokumentierte Daten einer Zwischenauswertung zu einem im Studienregister2 erst am 16. April 2020 geänderten primären Endpunkt, der zuvor auch Mortalität und Beatmungspflicht
beinhaltete. Das Ergebnis ist somit möglicherweise verzerrt. Zudem bleibt ungewiss, ob Remdesivir die Sterblichkeit beeinflusst, und wir vermissen beispielsweise Daten zu Beatmungsdauer und
unerwünschten Wirkungen. Die vollständige Publikation der bislang erhobenen Daten der Studie ist dringend erforderlich.
(Blauschrift = Präzisierung nach Versand)
Gleichzeitig präsentiert der Remdesivir-Hersteller Gilead in
einer Pressemitteilung Ergebnisse einer ebenfalls unveröffentlichten offen durchgeführten randomisierten Studie an hospitalisierten, nicht beatmeten Patienten mit COVID-19 und Nachweis einer Pneumonie
sowie verminderter Sauerstoffsättigung. Zwischen fünftägiger und zehntägiger Infusion von Remdesivir soll sich demnach nach 14 Tagen kein signifikanter Unterschied im Hinblick auf eine klinische
Verbesserung um wenigstens zwei Punkte auf einer 7-Punkte-Skala ergeben (65% 5 Tage vs. 54% 10 Tage).4 Zur Einschätzung der Wirksamkeit von Remdesivir bei COVID-19-Erkrankung
kann diese Studie nichts beitragen.
Vollständig publiziert wird aktuell eine randomisierte
Doppelblindstudie aus China an 237 hospitalisierten, im Median 65 Jahre alten Patienten mit COVID-19 und bestätigter Pneumonie sowie verminderter Sauerstoffsättigung oder unter Sauerstofftherapie.
Primär untersucht wird die Zeit bis zur Entlassung oder einer klinischen Verbesserung innerhalb von 28 Tagen um 2 Punkte auf einer 6-Punkte-Skala. Remdesivir für 10 Tage wirkt hier nicht signifikant besser
als Plazebo (im Median 21 Tage vs. 23 Tage). Die ursprüngliche angestrebte Fallzahl von 453 Patienten wird wegen Kontrolle des Ausbruchs in China allerdings nicht erreicht, sodass die Studie zu klein ist, um
die Frage mit ausreichender Power zu beantworten. Die Mortalität innerhalb von 28 Tagen ist in den Gruppen in etwa gleich (14% vs. 13%). Auch unerwünschte Wirkungen betreffen unter Remdesivir
insgesamt etwa gleich viele Patienten wie unter Plazebo (66% vs. 64%), schwerwiegende sind unter dem Virostatikum numerisch seltener (18% vs. 26%). Die Therapie mit Remdesivir wird aber häufiger
wegen unerwünschter Wirkungen abgebrochen (12% vs. 5%).5
Aus den bislang bekannt gewordenen Daten zu Remdesivir
bei COVID-19 lassen sich hinreichend sichere Aussagen zum Nutzen nicht ableiten. Therapiestandards müssen aus unserer Sicht auch bei COVID-19 auf nachvollziehbaren Daten beruhen. Bevor von
Remdesivir als Therapiestandard auszugehen ist, bedürfen die Ergebnisse der ACTT-Studie zudem der Bestätigung. Dafür sollten jetzt auch Zwischenanalysen der anderen laufenden Studien mit Remdesivir
bei COVID-19 durchgeführt werden, –Red.
| * | Geplant ist, abhängig von Zwischenergebnissen weitere experimentelle Therapien zu untersuchen und die Kontrolltherapie anzupassen. |
© 2020 arznei-telegramm, publiziert am 30. April 2020