Die praktische Umsetzung von Studienbefunden hängt auch davon ab, wie die Ergebnisse dargestellt werden. Ärzte neigen deutlich eher zur
Behandlung, wenn Untersuchungsergebnisse in hohen Relativwerten statt in Absolutangaben deklariert sind (a-t 10 [1994],
93).1 Werbeabteilungen nutzen dies und blasen beispielsweise eine spärliche Minderung der Herzinfarkthäufigkeit über fünf Jahre
um 1,4% (2,7% unter Gemfibrozil [GEVILON] statt 4,1% unter Plazebo) zu "34% weniger Herzinfarkte" auf (a-t 5
[1990], 49). Auch die jetzt viel zitierte Reduktion der Brustkrebshäufigkeit durch Primärprävention mit Tamoxifen (NOLVADEX u.a.) um 45%
weckt unrealistische Erfolgserwartungen (s. Seite 45).
Der zu erwartende Nutzen lässt sich aus Relativwerten aber nur unzureichend ableiten: Ein 90%iger Behandlungserfolg mag bei Erkrankungen ohne relevante
Spontanheilung genügend aussagen (z.B. Eradikation von Helicobacter pylori). Was es dagegen bedeutet, wenn eine Präventivmaßnahme das
Risiko für ein Leiden um 34% senkt, lässt sich ohne weitere Informationen nicht beurteilen (Beispiel Gemfibrozil). Befürworter der "Evidence-
based medicine" fordern daher seit mehr als einem Jahrzehnt, Studienergebnisse in praxisrelevanter Form darzustellen.2
Was bedeutet Number needed to treat (NNT)?
Number needed to treat (NNT) gibt die Zahl der insgesamt zu behandelnden Patienten an, um bei einem ein definiertes Behandlungsziel zu erreichen.
Die Berechnung hilft, die Effektivität einer Therapie einzuschätzen. NNT ist immer auf eine Vergleichsgruppe (Plazebo-, Alternativ- oder ohne Behandlung)
und auf eine bestimmte Behandlungsdauer bezogen. Sie lässt sich aus den Ergebnisdarstellungen von Kontrollstudien ableiten.
Bei Präventionsstudien werden nicht wie üblich die Erkrankungs-Rate unter Verum (ERV) und die der
Kontrollgruppe (ERK) in Relation zueinander gesetzt (relative Risiko-Reduktion: RRR)*, sondern die Differenz gebildet
(absolute Risiko-Reduktion: [ARR] = ERK - ERV; Beispiel Gemfibrozil: 4,1% - 2,7% = 1,4% [1,4 verhinderte Erkrankungen pro 100
Behandelte]). Deren Kehrwert gibt an, wie viele Personen in der Studie behandelt werden mussten (NNT), um ein Ereignis zu verhindern:
* |
RRR = (ERK - ERV) : ERK; Beispiel Gemfibrozil: (4,1% - 2,7%) : 4,1% = 34%
|
NNT = 1 : ARR Beispiel Gemfibrozil: 1 : 1,4% = 71
Zu Vergleichszwecken empfiehlt es sich, die NNT mit der Studiendauer in Jahren zu multiplizieren (Beispiel Gemfibrozil: NNT = 71 x 5 = 355). Die so normierte NNT
gibt anschaulich wieder, wie viele Behandlungsjahre oder pro Jahr behandelte Patienten nötig sind, um eine Erkrankung zu verhindern (z.B. bei Gemfibrozil:
einen Herzinfarkt bei Männern mittleren Alters mit erhöhtem Cholesterin). Dabei setzt man allerdings einen im Zeitverlauf konstanten Behandlungseffekt
voraus.
Bei Therapiestudien wird analog die Differenz zwischen Heilungsraten mit und ohne Behandlung gebildet (absoluter Heilungs-
Zuwachs [AHZ]). Dessen Kehrwert gibt die Zahl der zu behandelnden Patienten an, um einen gewünschten Therapieerfolg zu erzielen:
NNT = 1 : AHZ
Im Gegensatz zu den verbreiteten Relativangaben von Heilungserfolgen oder Risikominderungen berücksichtigt die NNT die Spontan-/Plazeboheilungsrate
bzw. das Grundrisiko der Erkrankung - ein Vorteil für die praktische Umsetzung von Studienergebnissen.3-5
Verringerte Mortalität durch Präventivmaßnahmen
Für Herz- und Gefäßerkrankungen sind Präventionsstrategien recht gut untersucht.6 In der 4S-Studie nimmt beispielsweise unter
Simvastatin (DENAN, ZOCOR) die Mortalität bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und Hypercholesterinämie nach 5,4 Jahren um 29%
(RRR) ab.7 Von 1.000 Patienten versterben unter CSE-Hemmer 82 statt 115 unter Plazebo. 33 Todesfälle werden verhindert (ARR = 3,3%), während 82
trotz Behandlung versterben und 885 auch ohne Behandlung überlebt hätten. Unter Berücksichtigung der Studiendauer müssen also pro Jahr
164 Patienten behandelt werden (NNT = 1 : 3,3% x 5,4), um einen Todesfall zu verhindern (a-t 3 [1995], 30).
Tabelle 1 nennt so berechnete Werte anderer Präventionsstrategien. Besonders Patienten mit hohem Sterberisiko profitieren von vorbeugenden
Maßnahmen. Ihr Nutzen wird größer (NNT kleiner), wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen. So verhindern CSE-Hemmer bei KHK-Patienten mit
Diabetes und Hypercholesterinämie fast doppelt so viele Todesfälle wie bei Patienten ohne Diabetes (NNT halbiert).27 Der Nutzen einer
antihypertensiven Therapie mit Diuretika oder Betablockern nimmt ebenfalls zu, wenn die Patienten nicht nur Bluthochdruck, sondern auch erhöhten Blutzucker
haben.28 Solche Nutzen-Berechnungen für spezielle Risikokonstellationen beruhen häufig auf Subgruppenanalysen größerer Studien.
Ihre Genauigkeit und Verlässlichkeit leidet zwar darunter. Für patientenorientierte Therapieentscheidungen sind sie dennoch hilfreich.
Die NNT hilft, die Wirksamkeit von Präventionsstrategien bei unterschiedlichen Anwendungsgebieten zu vergleichen. Vergleichsweise günstig wirken sich
ACE-Hemmer bei manifester Herzinsuffizienz aus oder wenn nach Herzinfarkt die Myokardfunktion eingeschränkt bleibt (a-t 3 [1994], 26; NNT zwischen 3,5 und 80). Sie werden hierfür zu selten verwendet,29
möglicherweise auch zu niedrig dosiert.30
Nach Hirninsult ist Azetylsalizylsäure (ASS, ASPIRIN u.a.), nach Herzinfarkt zusätzlich ein Betablocker von hohem Nutzen. In der Praxis
werden diese therapeutischen Möglichkeiten aber nicht konsequent genug umgesetzt. Auch ohne Kontraindikationen erhalten nur 20% bis 40% älterer
Infarktpatienten einen Betablocker und nur 75% ASS.31-33
Bei mildem arteriellem Hochdruck (diastolisch 90-110 mm Hg) im Alter unter 60 Jahren müssen sehr viele Patienten Diuretika oder Betablocker
einnehmen (NNT = 835), um jährlich einen Todesfall zu verhindern (für andere Antihypertensiva fehlen vergleichbare Daten). Bei Älteren zwischen 70
und 85 Jahren mit Bluthochdruck bis 120 mm Hg diastolisch oder isoliert systolisch überzeugt hingegen der Nutzen (NNT = 63). Wird über eine Therapie
der milden Hypertonie Jüngerer entschieden, ist vor allem zu berücksichtigen, ob weitere Risikofaktoren vorliegen (Diabetes, Nikotinabusus, KHK,
Hypercholesterinämie, linksventrikuläre Hypertrophie u.a.).35
Nach Herzinfarkt sind CSE-Hemmer bei Patienten im Alter von 35 bis 70 Jahren mit normalen bis deutlich erhöhten Cholesterinwerten zwar relativ gut
wirksam. Wegen der hohen Kosten müssen allerdings für einen verhinderten vorzeitigen Todesfall pro Jahr mindestens 250.000 DM aufgebracht werden
(a-t 8 [1996], 75). Die Vergleichswerte für ASS und Betablocker nach Infarkt liegen bei jährlich 7.000 DM bzw. 12.000 DM. Bei Patienten mit
Hypercholesterinämie ohne Herzinfarkt in der Vorgeschichte oder nach Herzinfarkt mit normalen Cholesterinwerten senken CSE-Hemmer die Mortalität
vergleichbar wie Antihypertensiva bei jüngeren Hypertonikern. Die Behandlungskosten sind jedoch unvertretbar hoch (mehr als 1,2 Millionen DM pro Jahr pro
verhinderten Todesfall). Fehlen weitere Risikofaktoren (positive Familienanamnese, Nikotinabusus, Diabetes, Hypertonie, andere Gefäßerkrankungen),
halten auch die Studienautoren es nicht für akzeptabel, CSE-Hemmer zu verwenden.19
Verringerte Morbidität durch Präventionsstrategien
Tabelle 2 gibt an, wie viele Patienten pro Jahr behandelt werden müssen, um einen Herzinfarkt, einen Hirninsult oder ein anderes Krankheitsereignis zu
verhindern. CSE-Hemmer nach Herzinfarkt und ASS nach Herzinfarkt bzw. Hirninsult sind in der gleichen Größenordnung zur Verhinderung von Herz- und
Gefäßerkrankungen nützlich wie zur Senkung der Sterblichkeit. Dies trifft analog auch für Diuretika und Betablocker in der Behandlung der
Hypertonie zu.
Die Darstellung mit NNT macht ersichtlich, dass es beim nicht valvulären Vorhofflimmern von Alter und weiteren Risikofaktoren abhängt, wie gut
Antikoagulantien oder ASS einem Insult vorbeugen. Die Antikoagulation ist wirksamer und bei Vorliegen von Risikofaktoren und Fehlen von Kontraindikationen
vorzuziehen.
Hinsichtlich des Risikos von Wirbelkörper- und Nicht-Wirbelkörperfrakturen bei Frauen nach den Wechseljahren ist eine besondere
Überlegenheit des derzeit stark propagierten Alendronat (FOSAMAX) gegenüber zyklischer Verwendung von Etidronat (DIDRONEL u.a.) oder einer
Vitamin D-Kalzium-Kombination nicht augenfällig.
Number needed to harm (NNH): Maß für das Schädigungspotential von Behandlungen
Berechnungen nach dem NNT-Modell eignen sich auch, das Schädigungspotential einer Maßnahme zu kennzeichnen. Häufig wird hierfür der
Begriff "number needed to harm" (NNH) gebraucht. Unter hochdosierter Antikoagulation nach Hirninsult oder ischämischer Attacke bei nicht
valvulärem Vorhofflimmern ist beispielsweise pro Jahr bei einem von 52 Patienten mit intrazerebraler Blutung zu rechnen (NNH = 52). Jeder Hirnblutung
stehen etwa vier verhinderte Insulte gegenüber (NNT = 12). Das Verhältnis von NNH zu NNT stellt ein Maß für die therapeutische Breite dar
und sollte möglichst groß sein. Unter der heute zur Primärprophylaxe des Hirninsults üblichen Intensität der Antikoagulation (INR um 2**) ist
dies der Fall. Die NNH beträgt für intrazerebrale Blutungen 500 und für schwerwiegende sonstige Blutungen 330, die NNT für verminderte
Insulte bei über 65-jährigen mit weiteren Risikofaktoren 15-25 (Tabelle 2).
** |
INR 2 ( ca. Quick 35%; 3 ( ca. 25% (von Labor und Reagenz abhängig)
|
Bei Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus ließen sich in der DCCT-Studie Langzeitkomplikationen durch Umstellen auf intensivierte
Insulintherapie recht effektiv vermindern (Tabelle 2).43 Jedoch traten pro Jahr bei jedem zweiten bis dritten Patienten eine zusätzliche
behandlungsbedürftige Hypoglykämie auf, bei jedem neunten eine zusätzliche zu Koma oder Krampfanfällen führende
Hypoglykämie.46 Andere Studien lassen allerdings erkennen, dass bei umfassender Schulung der Patienten und gut durchgeführter Behandlung
die intensivierte Insulintherapie nicht notwendigerweise mit erhöhtem Unterzuckerungsrisiko einhergeht.13
Vor wenigen Wochen wurde eine Studie an 13.000 Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko abgebrochen, weil nach vier Jahren unter Tamoxifen
(NOLVADEX u.a.) weniger neue Brustkrebserkrankungen als unter Plazebo auftreten (s. Seite 45).45
Um ein Mammakarzinom zu verhindern, müssen pro Jahr 376 gesunde Frauen behandelt werden. Die Rate schwerwiegender Störwirkungen ist jedoch
hoch (NNH für Thromboembolien oder Endometriumkarzinome 517).
Zur Risiko-/Nutzen-Abschätzung von Behandlungen reicht die reine Gegenüberstellung von NNT und NNH meist nicht aus. Die zu erwartenden
Störwirkungen müssen auch qualitativ mit den erreichbaren Behandlungserfolgen abgewogen werden.
Effektivitätsbeurteilung von Therapiestrategien
Bei manifesten Erkrankungen sollte eine Behandlung möglichst jedem Patienten helfen, die NNT also 1 oder annähernd 1 sein. Für die
gängigen Schemata zur Eradikation von Helicobacter pylori trifft dies zu: die Heilerfolge betragen 90%, spontan oder durch Plazebo wird der Keim nicht
eliminiert (NNT = 1,1).54
Bei hoher Spontanheilungsrate, gutem Ansprechen auf Plazebo oder nur geringer Beeinflussbarkeit kann die NNT deutlich höher liegen und den begrenzten
Nutzen einer Therapie veranschaulichen. Eine akute Otitis media ist bei Kindern meist viral bedingt. 60% sind nach einem Tag ohne Behandlung
beschwerdefrei. Eine sofort eingeleitete Therapie mit Antibiotika würde nur bei einem von siebzehn Kindern Ohrschmerzen in der ersten Woche oder eine
folgende kontralaterale Otitis verhindern (NNT je 17; a-t 6 [1997], 70). Gravierende Komplikationen
(Hörstörungen, Rezidive) werden nicht verringert. Bei einem von achtzehn Kindern kommt es jedoch zu Störwirkungen (NNH für Exantheme,
Erbrechen oder Durchfall = 18).49
Ähnlich nah beieinander liegen Nutzen und Schaden bei der medikamentösen Therapie hartnäckiger polyneuropathischer Schmerzen.
Sowohl trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin (SAROTEN u.a.) als auch die Antikonvulsiva Phenytoin (PHENHYDAN u.a.) und Carbamazepin (TEGRETAL u.a.)
helfen nur jedem zweiten bis dritten Patienten (NNT 2,3 bis 3). Bei jedem dritten bis sechsten kommt es jedoch zu Störwirkungen (NNH 2,8 bis 6). Bei einem
von 20 Behandelten bedingen sie sogar den Therapieabbruch ("number needed to quit": NNQ = 19 bis 24).50,51
Beim Herzinfarkt lässt sich durch thrombolytische Therapie mit Alteplase (ACTILYSE) statt mit Streptokinase (STREPTASE u.a.) die Sterblichkeit relativ
um 14% senken, absolut um 1% (von 7,3% auf 6,3%).52 Ob sich eine generelle Therapieumstellung auf die zehnfach teurere Alteplase unter
Kosten/Nutzen-Aspekten rechtfertigen lässt, ist fraglich. Unter 100 Patienten würde ein Todesfall verhindert. Effektiver und kostengünstiger
dürfte es sein, konsequent und frühzeitig mit einem Thrombolytikum zu behandeln. Wird die Therapie schon in der ersten statt in der zweiten Stunde nach
Symptombeginn begonnen, lässt sich bereits unter 36 Patienten ein Todesfall verhindern.53
Eine überzeugend wirksame Behandlung des Reizkolons ist nicht bekannt (a-t 5 [1994], 43). Vielen
Patienten helfen Quellstoffe (75%) - aber auch Plazebo (65%).47 Die für Therapiestudien verhältnismäßig hohe NNT von 10 spiegelt
den relativ geringen spezifischen Nutzen der Quellstoffe wider und klammert den enormen Plazeboeffekt aus. Die Zahl der Patienten, die im Plazebovergleich pro
Erfolg mit einem Mittel behandelt werden müssen, kann unter pragmatischen Aspekten den Nutzen eines Mittels somit unterschätzen.48
FAZIT: Mit der Zahl der Patienten, die behandelt werden müssen, um einen Therapieerfolg zu erzielen (Number needed to treat, NNT) lässt sich die
Effektivität von Langzeitstrategien zur Prävention von Erkrankungen anschaulich darstellen und vergleichen. Die NNT kann für Mortalität und
wichtige Krankheitsereignisse u.a. aus den Ergebnissen größerer kontrollierter Studien errechnet werden. Dies erlaubt es, den Nutzen einer Behandlung
bei Erkrankungen pragmatisch abzuschätzen, die häufig spontan abheilen, gut auf Plazebo ansprechen oder nur schwer beeinflussbar sind. Von
besonderem Nutzen können NNT sein, um therapeutische Innovationen mit Standardtherapien zu vergleichen.
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