TETRABENAZIN (NITOMAN) BEI M. HUNTINGTON UND
SPÄTDYSKINESIEN
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Das Benzochinolizin-Derivat Tetrabenazin (NITOMAN) wurde bereits in den
1950er Jahren als Neuroleptikum entwickelt. Es konnte sich als Antipsychotikum nicht behaupten, wird aber beispielsweise in Großbritannien seit Jahrzehnten
bei hyperkinetischen Bewegungsstörungen verwendet.1,2 Schwierige Dosisfindung und stark dosisabhängige Störwirkungen wie
extrapyramidalmotorische Symptomatik und Depressionen mit Suizidversuchen haben die Anwendbarkeit von Tetrabenazin offenbar begrenzt.1-5
Seit März 2007 ist Tetrabenazin in Deutschland zur symptomatischen Behandlung der Chorea Huntington sowie bei mindestens mittelschweren
Spätdyskinesien im Handel, wenn andere Maßnahmen versagt haben.
Eine ursächliche Therapie des Morbus Huntington existiert nicht. Ob eine symptomatische Behandlung der Hyperkinesien notwendig ist, muss jeweils
sorgfältig abgewogen werden. Choreatiforme Symptomatik steht zwar anfangs im Vordergrund und ist für die Diagnosestellung wichtig, stellt jedoch nur
einen Teil der Bewegungsstörungen dar und tritt im Verlauf der Erkrankung gegenüber anderen Symptomen wie Dystonie oder Rigidität zurück.
Funktionell einschränkend sind vor allem grobmotorische Probleme wie Gangstörungen. Der traditionelle Begriff Chorea Huntington wird daher heute eher
vermieden. Depressionen sind häufig, ungefähr jeder vierte Erkrankte unternimmt einen Suizidversuch.6 Bei behandlungsbedürftiger Chorea
werden bislang Neuroleptika wie Haloperidol (HALDOL u.a.) oder Tiaprid (TIAPRIDEX u.a.) verwendet. Ihr Nutzen ist allerdings schlecht belegt. Durch wiederholte
Absetzversuche ist zu prüfen, ob die Choreasymptomatik noch besteht und ob deren Therapie noch erforderlich ist.7
Bei Neuroleptika-bedingten Spätdyskinesien fehlen nach Metaanalysen sowohl für die häufig empfohlene Dosisreduktion als auch für
die Maskierung durch höhere Dosierungen Belege für Nutzen und Sicherheit.8 Auch die Wirksamkeit einer Vielzahl medikamentöser
Behandlungsversuche einschließlich Tiaprid9 ist nach Auswertungen der Cochrane Collaboration nicht nachgewiesen.10
EIGENSCHAFTEN: Tetrabenazin hemmt die Aufnahme von Dopamin und Noradrenalin, aber auch von Serotonin in die Speichervesikel
der präsynaptischen Neurone.11 Zusätzlich zur reversiblen transmitterverarmenden Wirkung besitzt Tetrabenazin am Dopaminrezeptor
postsynaptisch schwach antagonistische Eigenschaften.12,13
Die maximale Tagesdosis beträgt 200 mg. Durch die geringe und variable Bioverfügbarkeit14 (5% ± 3%) sind die erforderlichen
Dosierungen jedoch schwer kalkulierbar. Bei M. Huntington sind initial dreimal täglich 25 mg vorgesehen.11 Es können aber auch 12,5 mg/Tag
ausreichen.1 Dies entspricht der empfohlenen täglichen Anfangsdosis bei Spätdyskinesie.11
WIRKSAMKEIT BEI CHOREA HUNTINGTON: In einer zwölfwöchigen plazebokontrollierten Doppelblindstudie mit 84 ambulanten Patienten
wird der Einfluss von täglich maximal 100 mg Tetrabenazin auf sieben Teilaspekte der Choreasymptomatik (UHDRS*) geprüft. Die eigentlich
relevante Gesamtmotorik, der klinische Gesamteindruck, grob orientierend bewertet nach CGI**, und Fähigkeiten im Alltag (UHDRS) werden sekundär
erfasst.15 Eingeschlossen sind im Schnitt knapp 50-jährige Patienten, deren Choreasymptomatik durchschnittlich 15 von 28 möglichen Punkten
beträgt, deren Gesamtmotorik mit ungefähr 46 von 124 Punkten beeinträchtigt ist und die weder Schluck- oder Sprachstörungen noch eine
beeinträchtigende Depression aufweisen. Die Mehrheit (60%) nimmt jedoch Antidepressiva ein, 17% Benzodiazepine.
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UHDRS = Unified Huntington's Disease Rating Scale. Diese erfasst motorische, kognitive, funktionelle und
Verhaltens-Symptomatik. 31 motorische Aspekte werden mit jeweils 0 bis 4 Punkten bewertet, insgesamt also mit maximal 124 Punkten, davon 7 Aspekte zur Chorea
mit maximal 28 Punkten. Zu finden über
http://huntingtondisease.tripod.com
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Unter Plazebo verringert sich die nach neun und zwölf Wochen erfasste Choreasymptomatik um durchschnittlich 1,5 Punkte, unter Verum um 5 Punkte (p <
0,0001). Die Gesamtmotorik unterscheidet sich jedoch nicht. Statistisch signifikant, in der Ausprägung aber gering, ändert sich der klinische
Gesamtzustand: Bei Plazeboanwendern unterscheidet er sich mit durchschnittlich 3,7 Punkten fast nicht vom Ausgangswert (unverändert = 4 Punkte**), bei
Verumanwendern ist er mit 3 Punkten "minimal" verbessert. Gegen eine klinische Relevanz spricht auch, dass die Alltagsfähigkeiten unter Plazebo
besser sind als unter Tetrabenazin.15
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CGI = Clinical Global Impression zur Erfassung des klinischen Gesamteindrucks; Verbesserung wird auf einer 7-
Punkte-Skala bewertet; 4 Punkte = unverändert, 1 Punkt = maximal verbessert, 7 Punkte = maximal verschlechtert.
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Eine zweite fünftägige Phase-III-Studie mit 30 Teilnehmern, die nur als Abstract veröffentlicht ist, fällt negativ aus: Die Choreasymptomatik
(UHDRS) verschlechtert sich bei denen, die vor Studienbeginn auf das Mittel angesprochen haben und dieses dann absetzen, im Vergleich zur fortgesetzten
Einnahme nicht (p = 0,0773).16
Weitere kleine überwiegend ältere Studien zu Tetrabenazin bei Patienten mit M. Huntington1,12,17,18 oder unterschiedlichen
Bewegungsstörungen2,19-22 entsprechen nicht heutigen Anforderungen und erlauben keine Rückschlüsse.
Hinweise auf Wirkverlust bei einem Teil der Patienten finden sich in frühen psychiatrischen Studien, aber auch bei der Therapie von
Bewegungsstörungen.2-4 In den USA reichten die bisherigen Daten für eine Zulassung bei M. Huntington offenbar nicht aus.23 Die
Firma selbst rechnete bereits im Vorfeld mit Schwierigkeiten aufgrund der negativ ausgefallenen zweiten Phase-III-Studie.24
WIRKSAMKEIT BEI SPÄTDYSKINESIEN: Die Datenlage ist unzureichend: Zwei alte kleine, als randomisiert bezeichnete Ein-Zentrums-Studien mit 4
und 19 Patienten mit Spätdyskinesie und eine kleine Cross-over-Studie, die auch 10 Patienten mit Spätdyskinesie einschließt, erfüllen heutige
Standards nicht.21,22,25 Darüber hinaus finden wir vorwiegend retrospektive Auswertungen von Patienten mit verschiedenen
Bewegungsstörungen.13,19,26
STÖRWIRKUNGEN: Im Vordergrund stehen Schläfrigkeit/Somnolenz (32% versus 3% unter Plazebo) und Müdigkeit (22% vs. 13%).
Andererseits nimmt auch Schlaflosigkeit zu (26% vs. 0%). Motorisch fallen häufige Hyperkinesien (9% vs. 0%), Ataxie (9% vs. 0%) und Stürze (17% vs. 13%)
auf. Mit schwerwiegenden psychiatrischen Störwirkungen wie Depression (15% vs. 0%), Angst (15% vs. 3%) und Agitation (15% vs. 0%) ist zu
rechnen,15 die - ebenso wie Suizidalität - auch in frühen psychiatrischen Studien beschrieben sind.2,3,5
Nach Daten von 400 durchschnittlich 42-jährigen Patienten mit verschiedenen Bewegungsstörungen, die Tetrabenazin im Mittel etwas länger als
zwei Jahre einnehmen, werden Parkinsonoid bei 29% der Patienten, Akathisie bei 10%, akute dystone Reaktionen und Tremor bei jeweils 3% sowie Dysphagie bei
0,5% beobachtet. 55% brechen die Therapie ab, 23% wegen Störwirkungen. 5% dieser insgesamt noch jungen Patienten sterben. Die Autoren sehen jedoch,
ebenso wie bei Todesfällen in anderen Studien,20,26 keinen Zusammenhang mit der Medikation.13 Britische Ärzte berichten über
schwere Dysphagien und Pneumonie mit Todesfolge bei drei von fünf Behandelten, davon einer mit gesicherter Aspirationspneumonie.27 Erhebliche
Gewichtszunahme und Blutzuckererhöhung sind schon in frühen psychiatrischen Studien aufgefallen.3,4
Auch das als Neuroleptika-Störwirkung gefürchtete maligne neuroleptische Syndrom und schwere Hyperthermie kommen vor.28-30 Da akute
extrapyramidalmotorische Symptomatik, wie sie unter Tetrabenazin auftritt, als Risikofaktor für Spätdyskinesien gilt,31 kann diese
Spätschädigung auch nach Einnahme von Tetrabenazin nicht ausgeschlossen werden.
KOSTEN: Bezogen auf eine Tagesdosis von 75 mg Tetrabenazid (NITOMAN) ist die Behandlung mit 164 ( pro Monat dreimal so teuer wie mit einem
Tiaprid-Generikum (TIAPRID-CT, 52 €/Monat bei 3 x 100 mg/Tag) und ungefähr 20-mal so teuer wie ein Haloperidol-Generikum (z.B. HALOPERIDOL
HEXAL, monatlich 8 € bei 2 x 2 mg/Tag).
Seit März 2007 ist das mehr als 50 Jahre alte Neuroleptikum Tetrabenazin (NITOMAN) zur symptomatischen Therapie von Hyperkinesien bei Morbus
Huntington sowie nach erfolglosen Therapiemaßnahmen bei mindestens mittelschweren Spätdyskinesien in Deutschland im Handel.
Die Datenlage für Patienten mit Morbus Huntington ist unzureichend: Nur eine
von zwei Phase-III-Studien fällt für den primären Endpunkt, die Choreasymptomatik, positiv aus, nicht jedoch für die Gesamtmotorik.
Plazeboanwender schneiden in Bezug auf alltägliche Funktionen sogar besser ab. Ataxie, extrapyramidalmotorische Symptome und häufige Stürze
unter Tetrabenazin bieten dafür eine mögliche Erklärung.
Die Zulassung bei Spätdyskinesien auf der Grundlage alter Kleinststudien und
retrospektiver Auswertungen ist für uns nicht nachvollziehbar.
Depressionen kommen häufig vor. Todesfälle infolge von Suizid oder bei
Dysphagie sowie ungeklärter Genese sind aufgetreten.
Wir raten von der Anwendung von Tetrabenazin ab.
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randomisierte Studie, M = Metanalyse)
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